Der 19.Februar, seine Folgen und die Zukunft

Der 19.2. steht für eine Metapher in der politischen Auseinandersetzung, er steht für Gestaltungsaufgaben der Gesellschaft und stellt Fragen, die über Hanau hinausreichen. Der Blick richtet sich zurück, aber auch nach vorne, deshalb kann es keinen Schlussstrich geben, um der Zukunft willen. Mit nur wenigen Worten umriss Dekan Dr. Martin Lückhoff den Kernpunkt der Podiumsdiskussion „Erinnern – und ins Gespräch kommen“, zu der Kirchenkreis und Stadtkirchengemeinde Hanau in die Marienkirche eingeladen hatten.

Das Format: Podiumsdiskussion und offene Gespräche

Im ersten Teil der Veranstaltung stellte Yvonne Backhaus-Arnold, Redaktionsleitung des Hanauer Anzeigers, sensibel, aber dennoch konkret Fragen an ihre Gesprächspartner zu ihren persönlichen Erlebnissen am 19.2.2020. Es ging um Solidarität, um Aufklärung und Aufarbeitung der Ereignisse, um die Konsequenzen, die zu ziehen wären und um Wünsche für die Zukunft. Gesprächspartner waren Said Hashemi, Dr. Andrea Homeyer /Evonik), Oberbürgermeister Claus Kaminsky, Ajla Kühn und Markus Schneider (hr). Im zweiten Teil öffnete sich das Gespräch sich für die Gäste, die anschließend die Möglichkeit hatten, in kleinen privaten Runden ins Gespräch zu kommen.

Ajla Kühn und Said Hashemi erzählen
Der Blick ging zunächst zurück auf die Ereignisse am 19.02.2020. Ajla Kühn, Schwester von Hamza Kurtovic und Said Hashemi, Schwester von Said Nesar und Said Etris erzählten, wie sie ein normaler Tag für ihre Familie in der größtmöglichen Tragödie endete, die Menschen sich vorstellen können. Obwohl beide sehr gefasst und ruhig sprachen, spürte man, wie schwer es war, diesen Tag wieder aufleben zu lassen.
„Dann wurde uns mitgeteilt, dass mein Bruder tot ist. Die Atmosphäre in der Turnhalle, man hat die Angst und die Anspannung gespürt“, sagt Ajla Kühn. Die Familienangehörigen wurden in der Tatnacht mit einem Bus in eine Turnhalle gebracht, wo sie auf weitere Informationen warten mussten. „Die Namen wurden in der Halle vorgelesen. Wir waren sprachlos. Wir haben uns umarmt. – Meine Brüder waren damals 10 und 14 Jahre alt, wie soll ich ihnen das erklären?“, ging Saida Hashemi durch den Kopf, als sie Gewissheit hatte, dass Said Nesar getötet und ihr Bruder Eris schwer verletzt auf der Intensivstation lag.

Heiko Schneider berichtet
Heiko Schneider, der als einer der ersten Journalisten am Tatort war, erinnert sich, dass die Situation kaum greifbar war. Es kursierten in dieser Nacht jede Menge Gerüchte über Clan-Kriminalität bis hin zu Schießereien in anderen Stadtteilen.

„Hanau steht zusammen“
Für Claus Kaminsky gab es nur einen Bezugspunkt: „Die Angehörigen, die Angehörigen, die Angehörigen. Das Schlimme war, was willst du angesichts von so viel Trauer und Leid noch Tröstendes sagen?“ In diesen Tagen haben sich weitere Leitsätze entwickelt, so Kaminsky: „Hanau steht zusammen.“ und: „Sie waren keine Fremden.“

Die Tage danach bei Evonik: 3000 Menschen aus 50 Nationen
Dr. Andrea Homeyer erlebte eine aufgewühlte Belegschaft. „Alle waren sehr geschockt, sehr betroffen und fühlten sich hilflos.“ Evonik hat eine Möglichkeit für Solidaritätsbekundungen eingerichtet und in einer interkonfessionellen Gedenkstunde gemeinsam getrauert.

Aufarbeitung und Aufklärung
Zum vierten Jahrestag des rassistischen Anschlags sind immer noch Fragen der Angehörigen ungeklärt.
„Ich bin einfach enttäuscht.“, sagt Ajla Kühn und fragt „Wie konnte es so weit kommen? Kleine und große Fehler, alle zusammen führten dazu, dass die Tat so ausgeführt werden konnte. Vorher hatte ich ein anderes Sicherheitsgefühl.“

Das Sicherheitsgefühl
Dass in Hanau das subjektive Sicherheitsgefühl bis heute fragil und nachhaltig erschüttert ist, bestätigt auch OB Kaminsky: „Da fliegt ein Hubschrauber über der Stadt – da ahnen Sie, was bei mir los ist.“
Oberbürgermeister Kaminsky: „Es ist viel schiefgelaufen, ich habe dies als Auftrag verstanden, besser zu werden. Dass kein Wort im Koalitionsvertrag zu finden ist, halte ich für das falsche Signal.“

Rechtsextremismus
Der 19.2. ist auch immer ein Tag der Selbstvergewisserung über Hanau hinaus. Wie weit sind wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus gekommen? Es ist nichts besser geworden. Das Fazit von OB Kaminsky ist ernüchternd. Andrea Homeyer sagt, auch die Unternehmen müssten sich an der Aufklärungsarbeit beteiligen. Evonik lege die Geschichte des Unternehmens offen, fahre mit 20 Mitarbeitern vier Tage lang nach Auschwitz, um die Menschen zu sensibilisieren. Auch „Wut-Ausbruchtage“, Erfahrungen mit Rassismus im Unternehmen offen anzusprechen, sei wichtig. „Die Rechten dürfen nie das letzte Wort haben.“

Der Blick nach vorne – ein Wunsch zum Abschluss

Claus Kaminsky
„Glaubt nicht, dass ihr dieses Thema der Politik überlassen könnt. Ich nehme viel Zuversicht mit. Bildung, Bildung, Bildung ist der Schlüssel. Es lohnt sich, sich für den demokratischen Rechtsstaat einzusetzen.“

Heiko Schneider:
„Ein Wunsch an die Politik: Lass euch was einfallen, damit wir die Menschen erreichen.“

Saida Hashemi: „Bildungsarbeit. Ich hoffe, dass das Zentrum für Demokratie und Vielfalt die Menschen mitnimmt.“

Ajla Kühn: „Ein Wunsch zum Schluss
„Mehr miteinander zu reden.“

Dr. Andrea Homeyer: „Ich habe zwei Wünsche. Ich wünsche mir, dass mehr Unternehmen diesen Weg gehen. Es braucht mehr Geld für die Bildung. Initiativen krebsen vor sich hin. Bildung ist das, was man allen mitgeben muss, damit die Welt ein wenig besser wird.“

Foto: Dr. Andrea Homeyer, Ajla Kühn, Yvonne Backhaus-Arnold, Saida Hashemi, Claus Kaminsky, Heiko Schneider

Bildquellen

  • Podiumsgespräch 19.02.: Pongratz